von Dr. Peter Poeckh
Das Therapeutische Yoga, umgangssprachlich kurz „Yogatherapie“ genannt, stammt aus Indien und ist die traditionelle Wissenschaft und Kunst der Heilung nach yogischen und ayurvedischen Prinzipien.
Gemäß der Yogatradition von Krishnamacharya werden ganzheitliche Übungen so abgestimmt, dass Körper, Atem und Geist wieder in das - für Gesundheit notwendige - Gleichgewicht finden.
Ungleichgewicht kann gleichermaßen durch somatische wie psychosomatische Symptome aufgezeigt, aber auch ebenso auf beiden Ebenen wieder ins Lot gebracht werden. Oft sind es geistige Hindernisse,
wie unbewusste, schädliche Glaubenssätze und Verhaltensmuster, die unseren Energiefluss ins Stocken bringen oder gar versiegen lassen. Im Therapeutischen Yoga kennen wir die Symbiose von Körper,
Atem und Geist. Da die westliche Medizin noch immer vor allem die physische Ebene für die Behandlung von Krankheiten und Wiederherstellung von Gesundheit als vorrangig relevant sieht, steht für
Menschen in der westlichen Welt vor allem die körperliche Ebene stark im Vordergrund. Sobald die aufgetretenen Symptome verschwinden, gilt der Patient als therapiert.
Yogatherapie verbindet die klassische östliche Yoga Tradition und ayurvedische Wissenschaft mit den neuesten Erkenntnissen der westlichen funktionellen Anatomie, Muskel-, Faszien- und
Gelenkstherapie. Als besonders effektiv hat sich in Kombination die Muskelfunktionstherapie herausgestellt, durch die – da sie am neuromuskulären System ansetzt – zusätzlich tiefe Verspannungen
im Bewegungsapparat gelöst werden können. Somit eine wunderbare Art, den physischen und psychischen Zustand eines jeden Menschen zu optimieren. Es steht das einzelne Individuum, als Einheit von
Körper, Seele und Geist mit seinen Potentialen, Fähigkeiten und Talenten im Vordergrund. Eine spezifische Anpassung der Yoga-Praxis ist daher in jedem Fall unumgänglich, um sinnvoll und
zielführend wirken zu können. Charaktereigenschaften, Gedanken, Erlebnisse usw. tragen letztendlich dazu bei, unsere Individualität noch weiter vertiefen.
Wesentliche Faktoren, die es zu beachten gilt:
• Alter
• Beruf
• Familienverhältnisse
• Lebensumstände und Lebensweise
• Ernährung
• aktuelle gesundheitliche Verfassung, vorangegangene Erkrankungen
• physische und psychische Konstitution (Stress- und Energielevel)
• Persönlichkeit, Fähigkeiten und Talente
• spirituelle und religiöse Ausrichtung
• Bedürfnisse und Zielsetzungen
• Bereitschaft, Disziplin
Aufgabe ist es, ein Maximum an Wirksamkeit zu sichern. Nur wenn alle diese Faktoren berücksichtigt werden, kann ein qualitativ hochwertiges, effektives Übungsprogramm ausgearbeitet werden.
Da sich Probleme meist im Körperlichen manifestieren, stehen Krankheiten, Verletzungen, und Einschränkungen im Vordergrund. Kaum jemand klagt nicht über Verspannungen oder Schmerzen. In der
Schulmedizin geht es meist um die Behandlung von Symptomen, doch sollte es primär Aufgabe sein, die Ursachen von Beschwerden zu erkennen. Oft haben psychische Belastungen wie Druck, Ängste und
emotionale Blockaden eine ebenso wesentliche Bedeutung. Als belastend wahrgenommene Umstände und/oder ungünstige Gewohnheiten führten dazu, dass der Mensch aus seinem Gleichgewicht gebracht wird.
Eine ganzheitliche Betrachtung schließt auch die Wechselwirkung von Ernährung und Lebensweise mit ein.
• strukturelle Probleme wie Rücken-, Schulter-, Nacken-, Knieschmerzen und Hüftbeschwerden
• Probleme im Bewegungsapparat wie Bandscheibenvorfälle, Skoliose etc.
• Gelenksbeschwerden (z. B. Rheuma, Arthrose)
• Herzerkrankungen, Bluthochdruck
• Störungen der Verdauung und Ausscheidung
• psychische Störungen und Krankheiten (eingeschränkt)
• chronische Beschwerden wie Schlafstörungen, Ängste, Depressionen, Burn-Out, Übergewicht
• chronische Erkrankungen wie Asthma, Migräne u. v. m.
Im Therapeutischen Yoga gilt es zu erkennen, welche Lebensumstände, Verhaltensweisen und Gewohnheiten den Zustand von Gesundheit aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Es geht also nicht in erster
Linie um Symptome und Krankheiten, sondern vielmehr um die Ursachen, die zu den Beschwerden geführt haben. Ruhe und Entspannung während der Praxis eröffnen die Möglichkeit, Selbstreflexion und
Selbstheilung zu erfahren. Je ruhiger und klarer der Zustand des Geistes ist, umso entscheidendere Antworten können im Innersten gefunden werden. Atmung und Meditation unterstützen die
Transformation auf körperlicher, emotionaler und geistiger Ebene. Resultat ist die Wahrnehmung oder Erkenntnis, dass man nur selbst für sein Leben, seine Gesundheit und Zufriedenheit
verantwortlich ist. Das speziell und individuell für ihn erstellte Übungsprogramm führt den Menschen zurück in sein ursprüngliches Gleichgewicht und ermöglicht die Wiederherstellung der Einheit
von Körper, Atmung und Geist.
Unsere Haltungen und Bewegungen haben einen großen Einfluss darauf, wie wir uns verhalten, und wirken direkt auf unsere Einstellungen, unser Wohlbefinden und unsere Ausstrahlung ein. Auch
übermittelt unser gesamtes Auftreten unterschwellig Informationen und hat somit eine entscheidende Wirkung auf unser Gegenüber.
Körperhaltung spiegelt daher nicht nur Defizite im physischen Bereich wider, sondern lässt auch Rückschlüsse darauf zu, wie wir uns gerade im Moment fühlen. Unsere körperlichen Haltungs- und
Bewegungsmuster geben Aufschluss über unsere emotionale und geistige Befindlichkeit. Daher gilt es, nicht nur ungesunde Körper-, sondern auch Geisteshaltungen zu erkennen und verstehen, um sie
langfristig verändern zu können. Wenn wir die verschiedenen Auswirkungen von Haltungen und Bewegungen bewusst erfahren, sind wir selbst in der Lage zu beurteilen, was sich für uns gut und richtig
anfühlt oder was wir vermeiden sollten. Wir lernen bestimmte Haltungsmuster zu verändern und neue Körperhaltungen zu verinnerlichen.
Die Lehrmeinungen über korrekte Haltung und Ausführung von Asanas gehen in den vielen verschiedenen Yogarichtungen und -schulen teilweise diametral auseinander. Schüler werden hinsichtlich der korrekten Ausführung oft verunsichert und bekommen diese nicht ausführlich bzw. einleuchtend erklärt. Daher ist es wichtig, ausreichend Kenntnisse über Anatomie zu besitzen, um eine zu einseitige und dogmatische Sicht der Dinge zu vermeiden und einen distanzierten und freien Blick entwickeln zu können. Denn nur wer auch die anatomischen Grundlagen kennt, kann eine vernünftige und an individuelle Voraussetzungen und Beschwerden angepasste Asana-Praxis aufbauen. Ursachen von Krankheiten u. Schmerzzuständen zu erkennen, anatomisches Hintergrundwissen zu erlangen, Asanas zu verstehen, vertiefen, abwandeln und anpassen zu können, bedeutet daher nicht nur für Yogalehrer einen wichtigen Wissensvorsprung, sondern auch für alle Übenden eine ganzheitliche und sinnvolle Vertiefung ihrer eigenen Praxis.
Eigenverantwortung ist eine Tugend und bedeutet die Verantwortung, die man selbst trägt. Sie ist eine logische Konsequenz von Freiheit. Jeder Mensch hat Eigenverantwortung für seine Lebensgestaltung, spirituelle Entwicklung und Gesundheit. Eigenverantwortung ist das Gegenteil von Opfermentalität, denn es gilt Lebenssituation, Lebensgestaltung und Glück selbst in die Hand zu nehmen. Und wenn man selbst alleine mit einer Situation nicht zurechtkommt, so hat man wiederum die Eigenverantwortung, Hilfe zu suchen bzw. sie anzunehmen. Individuell auf den Einzelnen und seine Bedürfnisse abgestimmt, erfordert Therapeutisches Yoga daher auch die Bereitschaft, selbständig und regelmäßig zwischen den gemeinsamen Einheiten zu praktizieren. Die Praxis ist nicht zeitraubend und kann ganz einfach ins tägliche Leben integriert werden. Yogatherapie entspricht dem Trend und Zeitgeist, auch im medizinisch-therapeutischen Bereich vieles selbst in die Hand zu nehmen und sich nicht nur auf Experten verlassen zu wollen. Diese zunehmende Eigenverantwortung findet hier eine sinnvolle Methode, sich gesund zu halten, denn gerade die moderne Forschung belegt bei vielen Erkenntnissen, dass Yoga dies zwar nicht im westlichen Sinne formuliert und gewusst, aber es dort schon immer angesetzt und gewirkt hat.
Fehlhaltungen, Einschränkungen in der Beweglichkeit und falsches Ansteuern der Muskulatur sind die häufigsten Ursachen für Schmerzen und Verletzungen beim und durch das Yoga.
Jeder Mensch hat bei jedem Asana seine ganz persönliche (momentane) Endposition, in der dessen therapeutische Wirkung optimal erzielt werden kann. Das liegt daran, dass eine direkte Korrelation
zwischen einem Fehlhaltungsmuster und dem Hineingehen in ein Asana besteht. Das bedeutet, dass Fehlhaltungsmuster und die Voraussetzung zur Ausführung von Asanas in unmittelbarem Zusammenhang
zueinanderstehen. Korrigiert man das Fehlhaltungsmuster, wird die Ausführung des Asanas nicht nur korrekter und effizienter, sondern in mindestens 95 % der Fälle auch schmerzfrei ermöglicht. Die
Zukunft des Therapeutischen Yoga liegt in jedem Fall in der Wissensvermittlung über die
Anpassung der gängigsten Asanas aus anatomischer Sicht, die Sinnhaftigkeit von Endpositionen, Hypermobilität u. -flexibilität und die bewusste Ansteuerung der wichtigsten Faszienketten im Körper.
Dr. Peter Poeckh ist Arzt, Yogatherapeut, Buchautor und bekannt aus mehreren ORF- u. Ö3-Sendungen, in denen er das Therapeutische Yoga bereits einem breiten Publikum zugänglich gemacht hat. Er leitet seit Jahren eigene Ausbildungsreihen, in denen u. a. auch umfassende Einblicke in die Zusammenhänge von Yoga und Anatomie/manueller Medizin/Faszien vermittelt werden.
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