Yoga im Alltag leben

Der Weg, den Yoga im Laufe des letzten Jahrhunderts in der westlichen Gesellschaft beschritten hat, ist bemerkenswert und führt von einem reinen Nischendasein hin zum unglaublichen Bekanntheitsgrad und Stellenwert von heute. Mit der größeren Verbreitung von Yoga wuchs auch das Wissen um seine positiven Auswirkungen auf Körper und Geist und es herrscht weitestgehend Konsens darüber, dass Yogaübungen viel dazu beitragen können, unseren stressigen Lebenswandel auszugleichen und zu erleichtern.

 

Schwierig wird es oft dann, wenn wir versuchen, Yoga in unseren Alltag zu integrieren. Allzu häufig unterliegt auch der Wunsch, Yoga zu üben, dem Zeitmangel oder schleicht sich zu den Dingen dazu, von denen wir glauben, sie "erledigen" zu müssen. Selbst wenn es uns unter diesen Umständen gelingt, zum Beispiel einige Asanas oder Atemübungen in unserem Zeitplan unterzubringen, bleibt es oft schwierig, den „Erledigungsmodus“ zu verlassen und sich wirklich zu entspannen.

 

Um uns dem modernen Druck der ständigen Selbstoptimierung zu entziehen, hilft es, sich die yogischen Grundideen in Erinnerung zu rufen: Yoga ist der Weg der Freude, ist citta-vrtti-nirodhah, was soviel bedeutet wie „das Beruhigen der Aktivität des Geistes“ (Yoga Sutras von Patanjali). Wenn wir also versuchen, Yoga in unseren Alltag zu integrieren, geht es nicht so sehr darum, täglich 90 Minuten Asanas zu praktizieren, sondern vielmehr darum zu lernen, ein wenig Abstand von jenen Denkmustern zu gewinnen, die uns in der Illusion der Beschränkung bestärken. Denn Yoga bedeutet auch Vereinigung:
„Es bezieht sich auf den Vereinigungsvorgang der individuellen mit der universellen Seele. Yoga führt den Geisteszustand herbei, in dem der Geist in allen Situationen unbeirrt und ruhig ist.“ (Swami Vishnu-Devananda)

 

Um diese Art von Geistesruhe zulassen zu können, hält Yoga verschiedene Wege und Methoden bereit, die man je nach Situation und eigenem Zustand erlernen, anwenden und kombinieren kann. So sind zum Beispiel Asanas, als körperliche Komponente von Yoga, ein guter Einstieg, um die Kopflastigkeit, die bei vielen von uns vorherrscht, zu durchbrechen. Nicht umsonst wird im Westen vor allem jener yogische Aspekt der Körperübungen mehr als alles andere mit Yoga assoziiert. Die Atemübungen (Pranayama) helfen uns wiederum, die Lebenskraft, das Prana, in uns zu stärken und frei zu werden von unnötigem Ballast. Und wie groß der positive Einfluss, den Meditation auf unser Leben haben kann, tatsächlich ist, wird gerade auch auf wissenschaftlicher Ebene erforscht und bestätigt.

 

All diese Elemente sind jedoch nicht nur Teil des yogischen Systems, sondern – anders betrachtet – auch natürliche Bestandteile unseres menschlichen Daseins. Denn wir alle atmen (Pranayama), bewegen uns (Asanas), nehmen Nahrung zu uns (richtige Ernährung) und brauchen Stille (Entspannung und Meditation), um uns zu regenerieren. Ein großer Unterschied, ob man all diese Faktoren bzw. diese sogenannten „5 Säulen des Yoga“ auch als Yoga ansieht oder nicht, besteht im Wesentlichen in der Art und Weise, wie man sie lebt und erlebt. Wir können also im Alltag jederzeit unseren Geist ein wenig öffnen und bewusst erleben, was wir gerade tun. Und es ist Yoga.

 

Immer dann, wenn wir achtsam sind und wach für alles Wunderbare in unserem Leben,

praktizieren wir Yoga.

 

Wenn wir uns entscheiden zu vertrauen, anstatt der urteilenden Stimme in uns, die alle Antworten schon zu kennen glaubt, weiterhin Macht zu geben, ist dies eine hohe Form von Yoga.


Konkret bedeutet dies vielleicht in Situationen, in denen man sonst die Geduld verliert, tief durchzuatmen. Es bedeutet, sich eines negativen Gedankens bewusst zu werden und ihn durch einen positiven zu ersetzen. Es bedeutet, diese Wahlmöglichkeit und den Gestaltungsspielraum, den wir haben, zu erkennen, vielleicht auch lange, bevor man lernt, beides zu nutzen. Es bedeutet, sich zwischendurch zu strecken oder für einen kurzen Moment die Augen zu schließen, Dankbarkeit zu empfinden und zu meditieren. Es bedeutet eventuell, ein inspirierendes Buch zu lesen oder bei Entscheidungen auf seine Intuition zu hören. Es bedeutet auch, sich Zeit zu nehmen für Dinge, die man gerne tut. Es bedeutet, die Disziplin aufzubringen, sich immer wieder dafür zu entscheiden, glücklich zu sein und die Gelegenheiten, jetzt in diesem Moment Glück zu empfinden, zu ergreifen. Denn – wie bereits erwähnt – Yoga ist der Weg der Freude und „ein Gramm Praxis ist besser als eine Tonne Theorie“ (Swami Sivananda).


Im Idealfall hilft eine regelmäßige Yoga- und Meditationspraxis dabei, sie ist jedoch keinesfalls Selbstzweck, sondern immer nur Hilfsmittel, um den Geist zu klären und frei zu machen für seinen fried- und freudvollen Ursprungszustand.
Doch egal, welche Art von Stütze wir auf unserem Weg wählen, wichtig ist Achtsamkeit in unserem Denken, Handeln, Fühlen und unseren Worten. Dazu gehört vor allem auch – und das vergessen wir oft – ein achtsamer und liebevoller Umgang mit uns selbst. Denn unsere wahre Natur ist sat-chit-ananda, absolutes Sein, Wissen und Wonne. Vergrößern wir also Freude, Leichtigkeit und Bewusstheit in unserem Leben, sind wir in Wahrheit näher an allem dran, wonach wir uns im tiefsten Inneren sehnen.

 

Unsere – nicht immer leichte – Aufgabe dabei ist es, einen ehrlichen und dennoch gütigen Blick auf unser Leben zu werfen, um zu sehen, wo man mehr Yoga im Sinne von sat-chit-ananda, im Sinne von Bewusstheit, einfließen lassen kann. Dann verschwimmt mit der Zeit vielleicht auch jene künstliche Trennung zwischen Alltag und spiritueller Übung und wir sind frei zu erkennen, dass alles wahrhaftig eins ist.

 

Ein Beitrag von Katharina Wind, Yogalehrerin

 


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