Es liegt in der Natur des Menschen, nach Verbesserung seines Lebens und nach Vermeidung von Leiden zu streben. Auf vielfältige Weise sucht er, nachdem sein unmittelbares Überleben gesichert ist, nach einer Steigerung seiner persönlichen Lebensqualität. Er versucht, durch materiellen Wohlstand, Besitz und Luxus, durch sinnlichen Genuss sowie auf geistig-spirituelle Weise zu einer Verbesserung, Vertiefung und Entfaltung seines Lebens zu finden. Diese Suche hat über die Jahrtausende ein breites Spektrum unterschiedlicher Formen angenommen – so reichen unsere Versuche, eine innere Unruhe, ein drängendes Suchen nach Erfüllung, Freude und Glück zu befriedigen, von sportlichen Ambitionen bis zu religiös-spirituellen Aktivitäten, von Karrierestreben bis zu Schönheitsoperationen, von Fernreisen bis hin zu Drogenkonsum und von medizinisch-therapeutischen Anwendungen bis zu unserem heutigen Esoterik- und Wellnessboom. Das gesamte Panorama menschlicher Tätigkeiten entspringt direkt oder indirekt einem inneren Verlangen nach Erfüllung, nach Ganzheit, nach Freude und Glück.
Wir sind in Europa und Nordamerika Meister in der Kunst geworden, materiellen Wohlstand und äußere Annehmlichkeiten zu schaffen: Wir haben unser ganzes Streben in den letzten Jahrzehnten, ja
Jahrhunderten auf das Ziel materiell-sinnlicher Freude ausgerichtet, unsere ganze kreative Energie in den Dienst des Wohlseins, der materiellen Bequemlichkeit gestellt und verfügen heute über ein
Arsenal von Maschinen, Technologien und Einrichtungen, welche uns eine „Lebensqualität“ erschaffen, die man noch vor wenigen Jahrzehnten als utopisch bezeichnet hätte.
In Indien und in anderen Teilen der Welt wurden andere Prioritäten gesetzt: Unter Vernachlässigung materieller Dinge konzentrierte man sich – nicht über Jahrzehnte, sondern über Jahrhunderte, ja,
Jahrtausende – auf die innere Welt des Geistes, der Psyche, der „Seele“. Man fragte sich: Wo ist der wahre Reichtum, das wahre Glück des Menschen? Können uns äußere, sinnliche Dinge, Karriere,
Ansehen, Geld und Macht wirklich dauerhaft erfüllt und glücklich machen? Wir streben oft viele Jahre lang nach bestimmten Dingen, nur um dann zu erkennen, dass sie uns nicht jene dauerhafte
Erfüllung und Freude geben können, die wir von ihnen erwarteten.
Die äußeren Aspekte unseres Lebens sind alle vergänglich oder verlieren früher oder später ihre Attraktivität. Sich an sie zu klammern, sein Glücklichsein von ihnen abhängig zu machen, führt
unweigerlich zu Enttäuschung, Kummer, Unglück und zu innerer Leere, wie die menschliche Erfahrung immer wieder zeigt.
Die Yogis vergangener Zeiten erkannten dies schon sehr früh, und sie suchten nach Wegen, jenes Glück, jene Freude, jenen Frieden, den wir uns von den tausend Dingen unserer raffiniert gestalteten
äußeren Welt erwarten, direkt zu verwirklichen. Es war ihr Ziel, das Glück in sich selbst zu finden, ein unzerstörbares Glück, das von materiellen Dingen völlig unabhängig ist.
Zunächst erkannte man, dass unser äußeres, materiell-geistig-emotionales Dasein nur ein Teil unserer gesamten Existenz ist: Hinter dem äußeren, oberflächlichen Leben erahnte und erspürte man eine
höhere (bzw. tiefere) Ebene unseres Daseins. Man erkannte, dass man diese „höhere Wirklichkeit“ erschließen musste, um zu höchstem und dauerhaftem Glück zu finden. Man erkannte die Notwendigkeit
eines Transformationsprozesses und begann, systematisch alle Faktoren der menschlichen Natur auf ihr Potential der Transformation zu untersuchen: Die Kraft des Geistes und der Konzentration, das
Unbewusste, Glaube und Emotionskraft, Sexualität, Körperenergien, Atmung und die Sinne. Das Ergebnis dieser Forschung und Entwicklung ist eine spirituell-metaphysische Sicht des Menschen und
seiner Welt sowie ein reiches Instrumentarium geistiger und psycho-physischer Techniken, welche man in ihrer Gesamtheit als Yoga bezeichnet hat und die seit wenig mehr als hundert Jahren begonnen
hat, die westliche Welt zu erobern.
Die Entwicklung, die mit dem Auftreten Swami Vivekanandas beim Kongress der Weltreligionen 1893 ihren Anfang nahm und sich mit einer langen Reihe von indischen Yogis, die in den Westen gingen, um
den Yoga zu verbreiten, fortsetzte, hat uns ein Geschenk von unschätzbarem Wert gebracht. Yoga beginnt unsere Spiritualität zu revolutionieren und stellt eine enorme Bereicherung nicht nur
unseres geistigen Lebens dar. Es gibt Yoga-Zentren, Seminarhäuser, Ausbildungsstätten, Meditationsgruppen, Yoga-Kurse und Yoga-Therapien der verschiedensten Anbieter und Yoga-Stile. Die Vielfalt
und Größe des Yoga spiegelt sich in der Breite, im Spektrum der verschiedenen in Europa und USA angebotenen Yoga-Aktivitäten wider.
Wenngleich es, entsprechend der westlichen Mentalität, starke Tendenzen gibt, den spirituellen Reichtum Indiens wiederum auf äußere, materielle Aspekte des oberflächlichen Wohlseins zu richten
und das umfassende yogische Repertoire auf Körper- und Entspannungsübungen zu reduzieren, so beginnt man doch vielfach, sich den tieferen Werten und der vollen Bedeutung des Yoga zu öffnen.
Der Wert dieser heiligen Wissenschaft ist so groß und so überzeugend, dass sich sogar eine Reihe von Repräsentanten der verschiedenen Weltreligionen, unter anderem auch katholische Geistliche,
ernsthaft und intensiv mit Yoga zu befassen begannen. Wenn man Yoga bewusst und ohne Vorurteile betrachtet und studiert, erkennt man deutlich das Gemeinsame aller Religionen und geistigen
Heilswege und erkennt die Genialität, mit der Yoga sie verbindet, erklärt und in ihren verschiedenen Ausformungen akzeptiert.
Yoga sollte nicht als ein ausschließlich fernöstliches, orientalisches System betrachtet werden (wenn es auch dadurch für viele Menschen sogar eine gewisse Attraktivität erhält, von anderen
wieder als „fremd“ und „nicht in unsere Kultur passend“ angesehen wird). Wohl wurde die Wissenschaft des Yoga in Indien entwickelt und enthält in ihrer klassischen Form eine Anzahl von Elementen,
die den kulturell-religiösen Hintergrund Indiens widerspiegeln, doch gilt es, durch tieferes Erkennen der Grundgedanken des Yoga zum Erkennen der universellen Anwendbarkeit seiner Philosophie und
Techniken zu gelangen.
Yoga ist, wenn wir ihn von der oberflächlichen kulturgeprägten Aspekten befreien und zu seiner Essenz vordringen, ein, wenn nicht DER spirituelle Heilsweg für die ganze Welt. Tatsächlich lassen
sich die meisten der in anderen Ländern und Kulturen entwickelten Heilswege in die Grundgedanken des Yoga einordnen. Entsprechend groß ist auch die Toleranz der hinduistischen Tradition, die
andere Glaubensrichtungen ohne Vorbehalte anerkennt und assimiliert. Das Trennen und Ablehnen von anderen spirituellen Wegen läuft dem Prinzip der Spiritualität selbst zuwider - Yoga als Weg zur
Einheit und Ganzheit schließt alle Wege, die zum Ziel führen, in sich ein, akzeptiert sie und kann damit nicht mehr als fernöstlicher Weg bezeichnet werden, sondern als ein Weg für jeden
einzelnen Menschen auf dieser Welt.
Auszug aus "Ganzheitlicher Yoga" von Arjuna P. Nathschläger
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„Publiziert mit freundlicher Genehmigung der Yoga-Akademie Austria, www.yogaakademieaustria.com“
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