Über viele Jahrhunderte folgte die Spiritualität einem auf der ganzen Welt weitgehend einheitlichen Grundgedanken: Man sah das Ego, die innere Unreinheit und die Anhaftung als einen Feind, den es zu bekämpfen, niederzuringen galt; der spirituellen Weg war ein Kampf „Gut gegen Böse“. Die Formen und Methoden der verschiedenen spirituellen Traditionen bewegten sich in der Hauptsache um Selbstkontrolle, Gedankenzucht, Weltabkehr, Askese, Reduktion und Überwindung; der spirituell suchende und strebende Mensch zog sich oft aus der Welt in ein Kloster oder einen Ashram zurück und übte sich in Meditation und geistigen Disziplinen.
Erst in den letzten Jahren wird der spirituelle Weg vermehrt von einem neuen Zugang beeinflusst und geformt. Dieser Zugang ist weicher, entspannter und natürlicher als der klassische Weg, hier
erhalten das Vertiefen der Bewusstheit, des Erkennens und Erfahrens mehr Gewicht als bisher. Aus dem Kampf wird ein Spiel des Bewusstseins und der Achtsamkeit, das Ego wird vom Feind zu einem
Kind, das sich erst entwickeln, reifen muss und das man liebevoll beobachten kann, anstatt es erbittert zu bekämpfen.
Ähnlich, wie sich im Tantrismus etwa ab dem 11. Jahrhundert die Spiritualität von einem asketischen und körperfeindlichen Zugang zu einem Weg entwickelt hat, der den Körper und seine Energien als
Werkzeug zur Entwicklung einsetzte, so ist derzeit ein Wandel beobacht- und vor allem spürbar, der eine Verfeinerung des klassischen Zugangs der Kontrolle, Reduktion und der Askese darstellt. Der
alte Weg war ein hauptsächlich ein Kampf gegen innere Feinde wie Trägheit, Gier und vor allem das Ego, ein Weg des Strebens und Handelns, während sich heute vermehrt ein Weg der Stille, der
Bewusstheit, des friedvollen Loslassens, ja des Nichthandelns abzuzeichnen beginnt.
Dieser Wandel lässt sich gut an der Bedeutung und der Umsetzung des Vairagya-Prinzips erkennen:
Der klassische Yoga sieht Vairagya als ein „Ablehnen der Welt und aller materiellen Dinge als unwirklich und leidbringend“, man sah die Welt, die Schöpfung als einen Feind, der die spirituelle
Entwicklung behinderte, und den es zu überwinden galt.
Die neue Erfahrung des Vairagya wird mehr in die Richtung eines friedvollen Lösens von Anhaftungen und des Loslassens vergänglicher Dinge gehen, ein innerer Vorgang, der aus vertiefter
Bewusstheit und Erkennen entsteht. Gleich wie ein Kind mit Fortschreiten seiner Entwicklung seine Spielzeuge zurücklässt, sich anderen Dingen zuwendet, so wird es in der spirituellen Entwicklung
des Menschen zu einem kampf- und widerstandslosen Loslassen von Anhaftungen an vergängliche Dinge kommen, weil sich die Aufmerksamkeit auf eine natürliche Weise immer mehr der Stille, der
Verbundenheit, dem Göttlichen zuwendet.
Der klassische Yoga war gekennzeichnet durch eine mehr oder weniger scharfe Trennung zwischen Welt und Leben in der Welt einerseits und spiritueller Praxis andererseits. Diese Trennung schuf oft Widerstand, Ablehnung und Unverständnis gegenüber materiellen und weltlichen Dingen und entsprach auch nicht dem Anspruch eines ganzheitlichen und integrierenden spirituellen Weges.
Die neue Spiritualität öffnet sich immer mehr dem Leben und macht die Erfahrung der Freude, Stille und Verbundenheit mit allen Dingen IN den Dingen der Welt erfahrbar. Das Werkzeug dafür ist Loslassen, Hingabe, Stille und Bewusstheit. Dieses Loslassen, diese Hingabe, Stille und Bewusstheit wiederum werden in den Yoga-Übungsstunden und in der Meditation gleichsam trainiert, womit sich der Kreis schließt: Wenn du weißt, weshalb und wofür du deine Übungen durchführst, welche inneren Fähigkeiten dadurch entwickelt und entfaltet werden sollen, so können diese Wege viele verschiedene Formen haben – auch solche, die scheinbar mit Yoga gar nichts (oder nicht direkt) zu tun haben. So kann ein Waldlauf etwas Meditatives haben, Krafttraining dich tief in das Spüren deines Körpers hineinführen, ja, eine einfache Berührung der Erde kann tiefe Verbundenheit entstehen lassen und das Hören schöner, erhebender Musik kann dich zu Tränen der Freude rühren.
Eine weitere Ebene, auf der sich der neue Weg vom klassischen Zugang unterscheidet, ist die des Sadhana, des spirituellen Übens. Bisher wurde der spirituelle Fortschritt als eine Funktion der aufgewendeten Zeit und Mühe betrachtet, der Sadhana war durch ein absichtsvolles Tun, eben die Übung der Asanas, Pranayamas, der Meditation usw. gekennzeichnet.
Es mag nun jedoch der Zugang des Karma Yoga, der Erwartungslosigkeit und des Nicht-Tuns zunehmend als eine Alternative empfunden werden, denn gerade das Loslassen des bewussten und absichtsvollen Tuns eröffnet uns ein Feld der Stille und der Hingabe, das wirklichen spirituellen Fortschritt kennzeichnet. Dabei geht es jedoch nicht um das Nichts-Tun, sondern um die subjektive Erfahrung des Nichthandelns im Handeln – also nicht um das Beenden deiner Asana-Übungspraxis, sondern um das Gefühl, dass diese dich durchfließt, du dem Üben mehr als Beobachter beiwohnst. Das Üben wird so von etwas manchmal vielleicht Anstrengendem, Mühevollen zu einer Erfahrung der Leichtigkeit, der Freude, es entsteht eine deutlich vertiefte innere Erfahrung der Stille und Freude.
Es könnte nun der Eindruck einer Wertung entstehen, etwa: „Kontrolle, Reduktion und Zurückziehen aus der Welt ist schlecht (hinderlich), während Loslassen, Nicht-tun und Zuwendung zur Welt gut (förderlich) sind.“ Das stimmt nur bedingt, denn im Grunde geht es um die Qualität, um die Bewusstheit, die hinter dem jeweiligen Zugang steht. So kann ein vorübergehendes Zurückziehen in ein Kloster die persönliche Entwicklung enorm unterstützen, sofern es zur rechten Zeit und im rechten Geiste durchgeführt wird, und nicht etwa als Weltflucht. Andererseits würde ein Nichts-Tun, das einem trägen, gelangweilten Geist entspringt, nicht jene Wirkungen haben, die man von einem stillen, bewussten Nicht-Tun erwarten kann.
Achte also darauf, dass es darum geht, all dein Tun und Nicht-Tun, dein Streben und Loslassen, dein Üben und deine Hingabe, auf dem fruchtbaren Boden der Bewusstheit wachsen zu lassen, denn die spirituelle Entwicklung gedeiht am besten, wenn die gegebenen Kräfte, Yin und Yang, Ida und Pingala, männlich und weibliche Qualitäten harmonisch zusammenwirken.
In den letzten etwa zwanzig Jahren hat sich eine kaum mehr überschaubare Fülle von Yoga-Stilen und Wegen entwickelt, die versuchen, der Unterschiedlichkeit der Menschen gerecht zu werden und neue Wege der Spiritualität und der Heilung zu erschließen. Bei manchen Yoga-Stilen mag ein kritischer Beobachter den Eindruck haben, dass sie kaum mehr etwas mit dem eigentlichen Grundgedanken des Yoga zu tun haben, doch wird es immer am Praktizierenden liegen: Macht er oder sie bestimmte Übungen und bleibt auf der Ebene der Form des jeweiligen Yoga-Stils, oder ist er oder sie beim Praktizieren von einer tiefen Sehnsucht nach Gott durchdrungen und beseelt und dringt damit durch die Form des Yoga-Stils hindurch zur Essenz und zum Inhalt des Yoga – der allen Yoga-Wegen gemein sein sollte, vor.
Welches auch immer der von dir beschrittene Yoga-Weg ist, du erkennst, dass es der für dich richtige Weg ist – und dass du ihn in der rechten Weise beschreitest - , wenn du im Alltag ein
zunehmendes Gefühl von Freude, Bewusstheit, Gelassenheit und In-Deiner-Mitte-Ruhen erfährst.
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