Der Grundgedanke des Raja Yoga ist bestechend einfach. Er besagt, dass alle Probleme und alles Leiden des Menschen aus der Tätigkeit des Geistes entstanden sind und dass folglich die Lösung auch
im Geist gesucht werden muss. Raja Yoga, der königliche Yoga-Weg (Raja bedeutet König) strebt die Kontrolle und Konzentration des Geistes an.
Der Geist wird im Raja Yoga mit einem See verglichen, dessen Oberfläche durch dauernden Wind aufgeraut wird, sodass unser Spiegelbild nicht erkennbar ist. Erst durch das Nachlassen des Windes -
unserer geistigen Bewegungen - beruhigt sich die Wasseroberfläche und wird schließlich zu einem Spiegel, in dem wir unser wahres Selbst erkennen können.
In stets tiefer werdenden Meditationen wird das Denken beobachtet und der im Inneren wachsenden Stille Raum gegeben, während die Gedanken abklingen und der Meditierende ruhig und friedvoll in
seiner Mitte ruht.
Aber nicht nur in der Meditationsübung wird diese Stille gepflegt, sondern auch im Alltag, wo die in der Meditation genährte Stille sowohl fortwirkt als auch bewusst vertieft wird: Man beobachtet
die Tätigkeit des Geistes bei den alltäglichen Handlungen, nimmt Abstand von Wollen und Nichtwollen, von Urteilen, Hoffnungen und Ängsten, indem man sein Leben vollkommen in dem Augenblick des
Hier-Jetzt konzentriert.
Die acht Stufen des Raja Yoga
Im 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung hat der große Yogi und Kenner des menschlichen Geistes, Patanjali, den Weg des Yoga beschrieben, der uns in acht Stufen von Achtsamkeit und Selbstdisziplin
im Alltag über Stillwerden von Körper und Atmung zur Meditation und schließlich zur Vollendung führt. Die acht Stufen sind:
1. YAMA, die „Verbote“
2. NIYAMA, die „Gebote“
3. ASANA, die richtige Sitzstellung
4. PRANAYAMA, das Stillwerden des Prana
5. PRATYAHARA, das Zurückziehen der Sinne
6. DHARANA, die Konzentration
7. DHYANA, die Meditation
8. SAMADHI, der überbewusste Zustand
Im folgenden wollen wir uns diese acht Stufen ansehen.
Am Beginn des Yoga-Weges steht das Freiwerden von belastenden und verunreinigenden geistigen Energien und Qualitäten. Dies ist nicht nur eine wesentliche Grundlage für die Meditation, sondern das Befolgen dieser Verbote (man beachte die große Ähnlichkeit mit einigen der christlichen zehn Gebote!) verhilft dem Menschen auch im Alltag zu spürbar mehr Harmonie, Frieden und Freude. Es gibt fünf Verbote:
1. Ahimsa, das ist Nichtverletzen, Gewaltlosigkeit in Gedanke, Wort und Tat.
Dies bedeutet, nicht nur von physischen oder geistigen Schädigungen (Intrigen, Betrug, Verleumdung) Abstand zu nehmen, sondern auch, niemandem etwas Böses zu wünschen und sich nicht am („wohlverdienten“) Leid eines anderen zu ergötzen. Das Gebot des Nichtverletzens erstreckt sich auf Menschen, Tiere und leblose Dinge - und natürlich auch auf sich selbst. In letzter Konsequenz lebt der Yogi in einem Bewusstsein, in einem Feld des Friedens, in dem nicht einmal mehr der Gedanke des Verletzens vorhanden ist. Von einem solchen Menschen sagt Patanjali, dass „in seiner Gegenwart alle Feindschaft verschwindet.“
2. Satya, die Wahrhaftigkeit
Dies ist ebenfalls mehr als nicht zu lügen; es bedeutet ein Leben, ein Bewusstsein, das in allen Bereichen wahr und klar ist. Nur wer die Wahrheit auf allen Ebenen seines Wesens lebt, sozusagen „auf einer Wellenlänge mit dem Universum schwingt“, vermag am Ende zur großen Wahrheit - zur Erfahrung Gottes - zu gelangen.
3. Asteya, Nichtstehlen,
heißt, nichts zu nehmen, was einem nicht gehört oder nicht zusteht. Die rechten Besitzverhältnisse sollen im Sinne der Wahrhaftigkeit gewahrt bleiben. Patanjali sagt: „Wer im Nichtstehlen fest begründet ist, dem fließt aller Reichtum zu.“
4. Brahmacharya bedeutet „Sich im Gottesbewusstsein bewegen“.
Brahmacharya wird oft als Keuschheit und Zölibat bzw. sexuelle Enthaltsamkeit interpretiert, umfasst im weiteren Sinn aber auch alle anderen Lebensbereiche. Das freizügige Sich-den-Sinnen-Hingeben erzeugt Unruhe im Geist und zerstreut Energie. Dies gilt für alle Sinne - für das Fühlen, das Schmecken, das Riechen, das Hören und das Sehen. Brahmacharya bedeutet, sich von äußeren, sinnlichen Dingen zurückzuziehen, um zu seiner Mitte zu finden und tiefen Frieden zu erfahren. Der seine Sinne beherrschende „Brahmacharin“ verfügt über kraftvolle Vitalität, strahlende Energie und einen klaren Geist. Allerdings ist eine plötzliche und erzwungene Abkehr vom weltlichen und sexuellen Leben meist nicht zielführend und kann überdies ein Verstoß gegen das erste Gebot, Ahimsa (Nicht-Verletzen), gegenüber dem Partner / der Partnerin sein.
5. Aparigraha, Nichtbegehren:
In unserer Zeit der „Wachstumskultur“ und ständigen Streben nach Mehr ist das Nichtbegehren ein Gebot von be-sonderer Bedeutung. Machen wir uns bewusst, dass all unser Besitz nur von Gott
geliehen ist: Wir sind nur Verwalter, nicht Eigentümer. Wer das Prinzip des Nichtbegehrens zu leben vermag, erfährt großen inneren Frieden, denn durch das Loslassen der Gier wird er auch von den
Dingen nicht mehr „besessen“.
Während die Yamas, die „yogischen Verbote“ zu den allgemeinen und für jeden Menschen wichtigen Richtlinien zählen, sind die Gebote, die Niyamas, eine Form spezieller Disziplin für den Menschen, der durch Meditation, Innenschau und innere Reinigung spirituell-ganzheitlich wachsen möchte. Die Verbote beseitigen astrale und mentale Unreinheiten, die Gebote bauen nun positive Werte und Reinheit auf, welche eine stabile Grundlage für die durch Meditation angestrebte Transformation des Menschen schaffen. Es gibt fünf Gebote:
1. Saucha ist die Forderung nach Reinheit.
Saucha bedeutet mehr als körperliche Reinheit - das Gebot der Reinheit umfasst auch die energetische, die geistige und die psychische Ebene sowie die Reinheit der Motive und der Wahrnehmung. Alle Techniken des Yoga streben eine vollständige Reinheit auf allen Ebenen unseres Wesens an. Diese Reinigung ist wie das Entfernen einer Menge Schutt aus einem Kanal: Das Wasser kann dann wieder frei fließen - in unserem Zusammenhang bedeutet das, dass die göttliche Energie und Gnade wieder durch uns hindurch fließen kann, weil wir als ganzes - Körper, Geist und Seele - gereinigt sind.
2. Santosha bedeutet Zufriedenheit.
Frieden in sich zu fühlen ist das Ziel und auch der Weg. Dieser innere Frieden bildet eine wesentliche Grundlage für die Meditation und übt positiven Einfluss auf die Gesundheit und auf die gesamte Lebensqualität aus.
3. Tapas heißt wörtlich Feuer.
Yoga betrachtet Askese und Selbstdisziplin als reinigendes Feuer, das geistige und astrale Unreinheiten verbrennt. Sich gehen zu lassen führt zu Trägheit. Die vorübergehende „Einschränkung“ durch Selbstdisziplin führt jedoch zu wirklicher Freiheit und zu persönlichem Wachstum. Beispiele für Askese sind etwa das Fasten, das frühere Aufstehen, um zu meditieren, und ganz allgemein, Dinge zu tun, die ein wenig anstrengend oder unangenehm sind, die man aber als gut und heilsam erachtet. Andererseits gilt es auch, Dinge zu unterlassen, die man gern tun würde, weil sie einem Vergnügen versprechen, während man weiß, dass das Vergnügen mit späterem Leiden zu bezahlen ist.
4. Svadhyaya, das Selbststudium,
kann aus zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden: Zum einen die kritische Selbstbeobachtung, Selbstbefragung und Innenschau: Wir werden uns der Gedanken und Gefühle und deren Ursprung in den verschiedenen Situationen bewusst und beginnen damit, geistige Zusammenhänge zu verstehen und auch Einfluss auf die Gedanken und Gefühle zu nehmen. Andererseits bedeutet Svadhyaya das Studium der geistigen Gesetze und Zusammenhänge. Das Lesen der Bibel, der Bhagavad Gita und anderer heiliger / spiritueller Schriften erhebt den Geist und führt zu innerer Reinheit.
5. Ishvara-Pranidhana:
Die Hingabe an Gott, in welcher Form und Religion das auch immer geschieht, ist ein sehr wichtiger Aspekt jedes geistigen Fortschritts. Dies ist weniger auf der Ebene des formalen Gottesdienstes,
mit Ritualen und Gebeten, als mehr auf der Ebene des lebendigen Fühlens der Gegenwart Gottes und des freudvollen Vertiefens der Verbundenheit mit Gott in alltäglichen Situationen zu
verstehen.
Die Yamas und Niyamas bilden geistige Gesetze, die für den Menschen und seine Lebensqualität von größter Bedeutung sind.
Mit diesen beiden ersten Stufen des acht-fachen Weges haben wir die Grundlage für den meditativen Weg aufgebaut. Im Folge-Artikel besprechen wir die Stufen 3 bis 8.
Auszug aus dem Buch "Yoga fürs Leben" von Arjuna P. Nathschläger
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