Das Gesetz der Wahrhaftigkeit, Satya, geht weit über die gebräuchliche Übersetzung als „Nicht-Lügen“ hinaus. Wir wollen hier die tiefere Bedeutung des „Satya-Prinzips“ betrachten.
Das unendliche göttliche oder kosmische Selbst wird in der Yoga-Philosophie durch drei Eigenschaften beschrieben, als Sat-Chid-Ananda: Absolutes Sein, absolutes Bewusstsein,
absolute Wonne. Absolut heißt, durch nichts begrenzt, durch nichts definiert, von nichts abhängig. Uns interessiert hier besonders der erste Begriff, Sat. Sat ist jene
Seinsebene, die unserem Menschsein mit all seinen Ausdrucksformen zugrunde liegt. Es ist der grenzenlose „Seins-Raum“, in den unser Leben eingebettet ist. Zwischen diesem Seins-Zustand und
unserem menschlichen Zustand der Bewegung, des Wollens und Nichtwollens, herrscht zumeist eine Dissonanz, ein „Nicht-Zueinander-Passen“. Es sind wie zwei unterschiedliche, interferierende
Schwingungen. Hier schwingt Gott oder das absolute Sein als Sat, dort schwingt das menschliche Bewusstsein mit allen Regungen, Wünschen, Abneigungen, Ängsten usw. Satya bedeutet, diese Dissonanz
aufzulösen, die menschliche Schwingung an die göttliche Schwingung anzupassen. Auf der Ebene des menschlichen Denkens drückt sich diese qualitativ-energetische Veränderung als Wahrhaftigkeit,
Satya, aus.
Satya zu leben, bedeutet, sich in einem dauernden geistigen Feld der Wahrhaftigkeit zu bewegen, aus einem Bewusstsein heraus zu handeln, welches mit dem Kosmos sozusagen auf einer Welle schwingt. Gedanke, Wort und Handlung befinden sich auf einer Linie, es gibt nichts Verstecktes, keinen doppelten Boden, keine Widersprüche. Es bedeutet ein integrales, alle Ebenen unseres Wesens umfassendes Wahrsein und Klarsein. Es bedeutet Authentizität und Integrität.
Ein Ausdruck für das Wesen des Satya ist Klarheit, Transparenz. Satya in Vollkommenheit zu leben ist, wie ein vollkommen klarer Kristall zu sein: Das Licht, das durch den Kristall dringt, wird
nicht verändert; der Kristall ist wie nicht vorhanden.
Vielleicht vermagst du den energetischen Unterschied zu fühlen: Authentizität und Offenheit fühlt sich anders an als das Verdecken von Unwahrheiten. Zudem blockieren Unwahrheiten stets
Energie.
Sei wahrhaftig. In allem, was du tust, sei wahrhaft zu dir selbst und zur Welt. Die Wahrheit zu sprechen ist die wichtigste Voraussetzung für einen Yogi. Auf die Frage „Was ist das erste für
die Verwirklichung?“ würde ich antworten: „Das erste, zweite und dritte, nein, alles ist Wahrhaftigkeit!“
In einem Menschen, der sich auf Gedanken der Unwahrheit einlässt, lauert jeden Moment eine Angst, ein Gefühl, dass etwas Schlimmes passieren kann.
Gott ist Wahrheit, und die Wahrheit muss verwirklicht werden, indem man die Wahrheit spricht. Ein wahrhaftiger Mensch ist absolut frei von Sorgen und Ängsten. Sein Geist ist ruhig. Wenn
jemand zwölf Jahre immer die Wahrheit spricht, erlangt er „Vollkommenheit der Sprache“: Dann wird alles eintreten, was er spricht.
Deine Gedanken müssen mit deinen Worten übereinstimmen, und die Worte müssen mit deinen Handlungen übereinstimmen. Bleibe unter allen Umständen auf dem Weg der Wahrheit. Wahrheit hat ein
eigenes Strahlen. Sie strahlt aus sich selbst und wirft ihr Licht auf andere. Vollkommener Friede und wahres Glück werden dir gehören. Mögen Wahrheit und Reinheit deinen Weg erhellen, dein
Verhalten lenken und deinen Charakter formen.
Swami Sivananda (1887 - 1963)
Auszug aus dem Buch "Yoga fürs Leben" von Arjuna P. Nathschläger
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