Für die meisten Menschen bedeutet Yoga zu üben, Asanas und Meditation zu praktizieren. Doch wer tiefer in den Geist des Yoga eindringt, dem enthüllt sich eine völlig neue Welt. Yoga umfasst unser ganzes Leben, jeden einzelnen Augenblick. Der Yogaweg, der sich mit dem täglichen Leben am unmittelbarsten auseinandersetzt, ist der Karma Yoga.
Der Begriff Karma leitet sich aus der Sanskritwurzel kri ab, was „Handlung“ bedeutet. Karma Yoga ist der Yoga-Weg des bewussten, achtsamen und erwartungslosen Handelns, der in
vollkommenster Weise die anderen Yoga-Wege ergänzt. Wer kann sechzehn Stunden täglich für Yoga-Übungen aufbringen? Wir können zwei, vielleicht sogar drei oder vier Stunden täglich üben, aber wenn
wir die restliche Zeit des Tages von unserem „Yoga-Planeten“ heruntersteigen und ein ganz anderer Mensch sind, so werden die Übungen keinen wirklichen Erfolg erbringen können. Doch wenn wir die
gesamten restlichen Stunden des Tages weiterhin im „Geist des Yoga“ bleiben, sozusagen die in den Übungen erzeugte Schwingung sich fortsetzt, so kann die volle Kraft des Yoga wirklich zu greifen
beginnen!
„Alle spirituellen Traditionen stimmen darin überein, dass die Mechanik unseres Schicksals auf der materiellen und geistigen Ebene von der Qualität der Handlungen des Menschen, oder, genauer
gesagt, von seiner Absicht, abhängt. Karma Yoga ist die Kunst und Wissenschaft karmisch bewusster und verantwortlicher Handlung und Absicht. Karma Yoga erfordert eine vollständige Umwandlung der
menschlichen Natur, denn er verlangt, dass jede Handlung einer Disposition entspringt, welche von unserer gewöhnlichen geistigen Einstellung stark abweicht.
Handlungen, die im Geist der Selbst-Hingabe durchgeführt werden, haben überaus positive Wirkungen. Sie verbessern unsere gesamte Lebensqualität und machen uns zu einer Quelle der Kraft und
Reinheit für andere Menschen. Der Grundgedanke ist, dass wir sind, was wir sind, durch das, was wir tun, oder eher, wie wir es tun. In unseren Handlungen drücken wir aus, wer oder was wir sind –
wir externalisieren unser inneres Sein, und die Handlungen werden zum Ausdruck unseres Wesens.
Karma Yoga verlangt viel mehr als nur, seine Pflicht zu erfüllen. Er geht auch über konventionelle Moralität hinaus und ist von einer profunden spirituellen Haltung gezeichnet. Die
„leichte“ Disziplin des Karma Yoga wird, wenn sie bewusst und ernsthaft angewendet wird, zu einer herausfordernden spirituellen Praxis der Selbst-Transzendenz. Karma Yoga ist der am direktesten
mit dem täglichen Leben verbundene Yoga-Weg. Das große Ideal des „Nichthandelns im Handeln“ betrifft auch alle anderen spirituellen Disziplinen und ist heute von der gleichen Bedeutung wie zu der
Zeit, als die indischen Weisen sie vor gut zweitausend Jahren beschrieben haben."
Georg Feuerstein
Karma Yoga postuliert die Existenz und universelle Gültigkeit des Karma-Gesetzes. Dieses Gesetz besagt, dass mit jeder physischen und geistigen Handlung eine Wirkung ausgelöst wird, die früher oder später „reift“ und entsprechend der Qualität der Handlung bzw. der Absicht angenehme oder unangenehme Manifestationen in unserem Leben hervorbringt. Das Gesetz des Karma ist das Gesetz des Ursache-Wirkung-Zusammenhanges.
Dieses Gesetz in vollem Umfang anzuerkennen, bedeutet, sich vollständig und endgültig vom Gedanken des Zufalls zu verabschieden. Wenn das Gesetz des Karma gültig ist, gibt es keinen Zufall. Einen
Zufall oder auch „göttliche Bestimmung“ anzuerkennen, würde bedeuten, das Gesetz des Karma zu „durchlöchern“. Welcher Apfel fällt nach oben in den Himmel? Kein einziger, sonst würde es mit
unserem Gesetz der Schwerkraft traurig aussehen. Gott schafft unsere Gesetze, aber er durchlöchert sie nicht!
So selbstverständlich und für jedermann einsichtig dieses einfache Gesetz auch ist, so ergeben sich in der Praxis oft massive Widerstände, das Karma-Gesetz zu akzeptieren. Am schwierigsten ist es
sicherlich, schwere Unglücksfälle oder auch extreme Glücksfälle zu verstehen, denn oft ist die „Ursache“, die damit in Verbindung stehen müsste, nicht unmittelbar erkennbar. Eine extreme Form mag
das schwer körperbehinderte Baby sein, das ja noch keine entsprechenden Handlungen, die seine Behinderung hervorgerufen haben, gesetzt haben kann.
Diese Überlegungen haben zu dem Schluss geführt, dass dieses Kind die Ursache nur VOR seiner Geburt gesetzt haben kann, dass es schon einmal gelebt hat. So führt das Gesetz von Ursache und Wirkung zu der in den meisten spirituellen Traditionen und Religionen anerkannten Lehre von der Wiedergeburt, der Reinkarnation.
Betrachten wir diesen Gedanken anhand eines Gleichnisses:
Wir schaffen uns, um uns besser im Leben mit seinen Pflichten und Aufgaben bewegen zu können, ein Auto an. Eine Zeitlang benützen wir es, und nach einigen Jahren beginnen immer mehr Teile und
Systeme des Autos ihren Dienst zu verweigern, sodass wir uns nach einem neuen Auto umzusehen beginnen. Wir geben das alte Auto ab und steigen in das neue ein. Wir selbst, die Benützer, sind
unverändert, doch haben wir eine neue „Hülle“ bestiegen. Ähnlich ist es, wenn die Seele einen „gebrauchten“ Körper ablegt und in einen „jungen“ Körper eintritt.
Ein anderes Beispiel: Wir legen uns am Abend schlafen und legen damit unser Tagesbewusstsein für einige Stunden ab. Der neue Tag erwacht und findet uns - nicht in völliger Unberührtheit, sondern
mit all unseren Ängsten, Wünschen, Neigungen und Abneigungen. Diese sind über Nacht nicht verloren gegangen, ebenso wie jene Aufgaben, die wir auf den nächsten Tag verschoben haben.
So bewegt sich die menschliche Seele von einer Inkarnation (Inkarnation heißt wörtlich „Fleischwerdung“) zur nächsten, vom einen Körper zum nächsten.
Der Tod ist nur ein Übergangsprozess von einer Verkörperung in einen vorübergehenden körperlosen Zustand, und die Geburt ist der Übergang von diesem körperlosen Zustand in einen neuen
Körper.
Wir halten unseren Körper für das Wirkliche, doch ist er nur eine Hülle, die wir vorübergehend benutzen. Was wir wirklich sind, ist die Seele, die den Körper bewohnt, und die ihn benützt, um sich
auszudrücken.
Der Grund für unsere „Fleischwerdung“ hängt eng mit der Philosophie des Karma-Yoga zusammen. Wir müssen ihn deshalb gut zu verstehen suchen. Die Seele hat, wenn sie ihren Körper verlässt, eine Anzahl von Ursachen gesetzt, deren Ergebnisse sie in diesem Körper nicht mehr zu „ernten“ imstande war. Auch nimmt sie eine Anzahl von ungestillten Sehnsüchten, Zu- und Abneigungen mit. Diese geistigen Elemente, die im Sanskrit als Samskaras (Eindrücke) bzw. Vasanas (Neigungen) bezeichnet werden, drängen mit Energie dazu, ausgedrückt, gelebt zu werden. Es ist wie ein Magnetismus - diese Vasanas ziehen die Seele wieder in einen Körper hinein, in dem sie bestimmte Karmas und Vasanas am besten ausleben kann. Oft führen ungelöste Konflikte und unerfüllte Wünsche dazu, dass wir wieder im Umfeld der gleichen Seelen wiedergeboren werden, mit denen wir im vorigen Leben verwandt waren oder zu tun hatten. Daher rührt das Gefühl, jemanden schon „irgendwie“ zu kennen.
Die Seele in ihrem körperlosen Zustand urteilt nach anderen Kriterien als sie es in einem verkörperten Zustand tun würde, wenn es darum geht, in welchen Körper sie eintreten soll und in welchem
Land sie inkarnieren wird. Für uns Menschen wäre es unbegreiflich, dass sich eine Seele den oben erwähnten schwer behinderten Körper eines Babys aussucht - welcher vernünftige Mensch würde sich
als neues Auto eines nehmen, welches über eine Zahl von schweren Defekten verfügt und vermutlich nicht weit fahren wird? Die unverkörperte Seele sieht die Dinge jedoch von einer höheren Warte
aus: Wie kann ich Karma abtragen - oder auch anderen Menschen helfen, das ihre abzutragen? Vielleicht genügt ein kurzes Menschenleben, um bestimmte Karmas abzutragen.
Wir Menschen haben den starken Drang, Dinge zu beurteilen und zu bewerten, sie als gut, das heißt angenehm einzustufen oder als schlecht, das heißt unangenehm zu betrachten. Die Seele hat einen
anderen Standpunkt. Sie folgt dem Gesetz und nicht der Bequemlichkeit. Nur so ist es zu erklären, dass Seelen in Körper eintreten, die mit Sicherheit in ihrem Leben große Leiden erfahren müssen.
Wir können uns Karma wie eine offene Rechnung vorstellen - nur kann das Begleichen dieser Rechnung nicht nur unangenehm, sondern auch angenehm sein. Es gibt sogenanntes „gutes“ Karma, das sich in Glücksfällen, Freude und Harmonie ausdrückt, und es gibt „schlechtes“ Karma, das uns Schmerzen, Krankheit, Auseinandersetzungen und Sorgen bringt.
„Wie du säst, so wirst du ernten.“ heißt es sinngemäß in der Bibel: Gute Taten bringen angenehmes Karma, negative Handlungen schmerzvolles Karma. Wobei hier anzumerken ist, dass die Bewertung „gutes“ und „schlechtes“ Karma nichts mit dem Karma-Gesetz zu tun hat, sondern im Geist des Menschen entsteht, denn er bewertet einfach jenes Karma gut, dessen Früchte ihm angenehm sind, und jenes Karma schlecht, dessen Ergebnisse als unangenehm empfunden werden.
Abhängig vom Zeitpunkt des Entstehens und der Wirksamkeit des Karmas unterscheidet die Yoga-Philosophie drei Arten von Karma.
Wir betreten also die Bühne des Lebens mit einem Rucksack voll „Prarabdha-Karma“, den wir aus dem „Lagerhaus“ des Sanchita-Karma befüllt haben. Glücksfälle und Schicksalsschläge, Dinge, die uns scheinbar von außen zugetragen werden, vermindern die Last im Rucksack, die Handlungen, die wir setzen, werden dem Rucksack aufgepackt oder an das Lagerhaus geschickt. Bis wir eines Tages unseren Rucksack geleert haben und wieder zum Lagerhaus zurückkehren, um die nächste Ration an Prarabdha-Karma auszufassen.
Da aus dem großen Lager des Sanchita-Karma nicht nur Karma entnommen, sondern laufend neues (Agami) hinzugefügt wird, kann man sich denken, dass es eine kaum zu bewältigende Aufgabe ist, das
gesamte Sanchita-Lager vollkommen aufzubrauchen. Es gibt im Karma-Yoga jedoch eine Art „Amnestie“. Menschen, die durch intensives spirituelles Streben zur Erleuchtung gefunden haben und damit
Jivanmuktas (zu Lebzeiten befreite Menschen) geworden sind, wird das gesamte Lager des Sanchita erlassen, sie müssen lediglich ihr Prarabdha-Karma abtragen.
Nachdem wir das Gesetz des Karma und seine grundlegende Mechanik betrachtet haben, stellt sich die Frage, auf welche Weise wir es in unserem eigenen Leben anwenden können.
Sicher wollen wir „gutes Karma“ erzeugen: Gute Taten der Freundschaft, der Nächstenliebe erschaffen positives Agami Karma. Jedoch bindet uns auch positives Karma an das berühmte Rad der
Wiedergeburten (Samsara) und macht uns damit unfrei. Wenn Karma die Kette ist, die uns in unserer Gefangenschaft hält, so ist positives Karma eine goldene Kette - doch was man im Karma Yoga
anstrebt, ist es, die Bindung überhaupt aufzulösen. Dies ist der springende Punkt im Karma Yoga!
Wie muss eine Handlung beschaffen sein, dass sie kein Karma auslöst? Karma Yoga erklärt, dass der eigentliche Karma-erzeugende und –gestaltende Faktor nicht die Handlung selbst ist, sondern die
geistige Haltung bei der Handlung. Jede Handlung, die aus persönlichem Antrieb, getrieben vom Verlangen des individuellen Willens, vollbracht wird, erzeugt Karma, entsprechend der Absicht
entweder positives oder negatives. Allein Handlungen, denen keine persönliche Motivation zugrunde liegt, die ohne Ichdenken, ohne Erwartung getan werden, erzeugen kein Karma und machen uns frei.
Auszug aus "Ganzheitlicher Yoga"
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