So populär der Hatha Yoga im Westen ist, so ist sein wahres Wesen den meisten Menschen unbekannt. Unsere stark nach außen gerichtete Welt macht auch vor dem Yoga nicht halt: Yoga in Fitness
Clubs, in Thermenhotels, Yoga-Gymnastik, Yoga als Wellness. Doch ist, was hier geübt wird, oft nur ein sehr schwacher Schatten jener großen, heiligen Wissenschaft von den Körperenergien, die vor
Hunderten von Jahren entwickelt wurde. Was zumeist als (Hatha-) Yoga angeboten wird, sind Fitness- und Stretchingübungen mit einzelnen Elementen der Hatha Yoga Asanas.
In diesem Artikel möchte ich versuchen, Licht in diesen wunderbaren Raum der Kraft, Hatha Yoga, zu tragen und aufgrund von alten Schriften Stück für Stück die Faszination und Bedeutung des
klassischen Hatha Yoga herausarbeiten.
Der Begriff Hatha setzt sich aus zwei Teilen zusammen, Ha und Tha: Ha steht für das Sonnen-Prinzip und Tha für das Mond-Prinzip. Sonne und Mond versinnbildlichen die in jedem Menschen und
tatsächlich in jedem lebenden Wesen wirksamen Energiequalitäten: unser männlicher und weiblicher Energieaspekt, Logik und Kreativität, Aktivität und Stille usw.
Das Ziel des Hatha Yoga ist es, einen harmonischen Gleichklang zwischen diesen elementaren Kräften herzustellen und zu erhalten. Darüber hinaus wird das Transzendieren der energetischen
Polarität, das Überschreiten des dualen Prinzips angestrebt.
Über Tausende von Jahren wurde der Yoga-Weg durch den asketischen Gedanken dominiert: Körper und Geist sind letzten Endes unwirklich und es gilt, sie durch Selbstzucht, Selbstverleugnung und Askese zu überwinden, um zur kosmisch-göttlichen Einheit zu finden, die durch die physischen und geistigen Erscheinungen verdeckt wird. Wollte man Gott erreichen, so musst man alles Irdische zurücklassen. Die Bindung an das Irdische war das wirksamste Hemmnis auf dem Weg zur Befreiung. Entsprechend stark war die Bewegung des Mönchstums, der Weltentsager (Sannyasins), der Asketen. Der Körper und alles, was körperlich war, wurde als sündig, als unrein betrachtet.
So gültig und richtig die Prämisse auch ist, dass die Verhaftung an das Irdische, Körperliche uns von der Verbindung mit dem Subtileren, Inneren, Göttlichen abhält, so ist das Asketentum und das
Abwenden vom Irdischen nicht der einzige Weg zum Heil. Etwa um das zehnte oder elfte Jahrhundert unserer Zeitrechnung begann die „tantrische Revolution“ die gesamte religiös-philosophische Welt
Indiens auf den Kopf zu stellen. Nachdem über undenkbar lange Zeiten der Körper als sündig und weltliche Freude als spiritueller Entwicklung äußerst abträglich betrachtet worden war, lehrt der
Tantra eine radikale Hinwendung zur Welt.
Der Körper ist zum Boot geworden, um den Ozean des Samsara (der Kreislauf der Wiedergeburten) zu überqueren, er ist nicht mehr „Quelle der Schmerzen“, sondern „Tempel Gottes“. Durch das
Integrieren sinnlicher Erfahrungen (z.B. der rituelle Geschlechtsverkehr, das Maithuna-Ritual) in den tantrischen Übungsweg wurde bhoga (Genuß) neben Yoga (Selbstkontrolle) zu Elementen der
tantrischen Praxis. Aus dieser Hinwendung zum Körper entwickelte sich in den nächsten Jahrhunderten der Yoga-Körperkult, den wir heute als Hatha Yoga in den meisten Yoga-Schulen üben.
Jedoch umfassen die tantrischen Techniken weit mehr als Körperübungen, die heute für viele der Inbegriff des Yoga sind. Sie umschließen alles, was die Energien auf den verschiedenen Ebenen
unseres Menschseins verändert und beeinflusst. So finden wir neben Atemübungen und Kontraktionen einzelner Muskeln viele meditative Praktiken, Reinigungstechniken, Energielenkungsübungen,
Mantra-Rezitation, Hinweise zur Ernährung und vieles mehr. Unter anderem auch das bewusste Einsetzen der sexuellen Energie für das höchste Ziel des Menschen: der „Prana-Turbo“ war entdeckt!
Im Westen wurde dieser Aspekt des Tantra mit Begeisterung aufgenommen und es entstanden „tantrische Bewegungen“, die die Arbeit mit der sexuellen Energie in den Mittelpunkt stellten und die
anderen Aspekte des Tantra weitgehend vernachlässigten. So kam es dazu, dass nicht nur in Europa und Amerika, sondern auch im Heimatland des Tantra, in Indien, der Tantra von vielen Menschen als
„Spirtuelle Sexualität“ oder „Sexuelle Spiritualität“ betrachtet wurde und wird. Während der Fokus vieler moderner „Tantriker“ auf dieser spiritualisierten Sexualität liegt (was nicht abgewertet
werden soll, denn hier liegt ein gewaltiges Potential der Bewusstseinserweiterung!), ist das Ziel der ursprünglichen tantrischen Idee die Einheit mit Gott.
Auf jeden Fall gewinnt der menschliche Körper unter dem Einfluss des Tantra eine nie dagewesene Aufmerksamkeit, was sich, sozusagen als „erwünschte Nebenwirkung“ positiv auf die Gesundheit der
Praktizierenden bemerkbar machte. Der Körper wurde erforscht, entmystifiziert und zum Werkzeug, zum Tempel Gottes erklärt.
Aus der tantrischen Grundidee entwickelten sich in der Folge zwei Hauptströme, der Hatha Yoga und der Kundalini Yoga. Wenngleich die Techniken dieser beiden Wege weitgehend ähnlich sind, so ist doch ihre Philosophie klar zu unterscheiden:
Hatha Yoga ist der Weg, um über die Beeinflussung der Körperenergien zum Raja Yoga, zu „citta-vrtti-nirodha“ zu gelangen. Was der Raja Yogi auf rein geistigem Weg anstrebt,
erarbeitet sich der Hatha Yogi durch Manipulation der Körperenergien. Man kann also Hatha Yoga als eine Art Vorstufe oder Hinführung zum Raja Yoga verstehen, weshalb er in den vier klassischen
Yoga-Wegen - Raja, Jnana, Bhakti und Karma - nicht gesondert genannt wird.
Kundalini Yoga geht von einem unterschiedlichen Grundgedanken aus. Die Erfahrung des Samadhi, des kosmischen Bewusstseins geht mit einer energetischen Veränderung im Astralkörper
einher: Die im Muladhara Chakra schlummernde Kundalini-Kraft wird erweckt und durch die Chakras nach oben geführt, bis sich die Kundalini, die weibliche Shakti-Energie in Sahasrara Chakra mit der
männlichen Bewusstseins-Energie vereinigt. Kundalini Yoga beruht auf dem Grundgedanken, dass dieses Energie-Ereignis gezielt herbeigeführt werden kann und umschließt, neben ethischen Grundlagen,
Ernährung und Mantra-Rezitation intensive Körper- und Atemtechniken, die die Bewegung der Kundalini-Kraft gezielt beeinflussen. Es gibt verschiedene Formen des Kundalini-Yoga: Statische Formen,
die sich nur wenig vom Hatha Yoga unterscheiden und dynamische Formen, bei denen mit Mantra-Rezitation kombinierte Körperbewegungen eingesetzt werden.
Beiden Wegen liegt die gleiche Technologie zugrunde: Die über lange Zeit entwickelte exakte Kenntnis der psycho-energetischen Strukturen im Menschen führten zu der Entwicklung spezieller
Techniken, welche menschliche Energien und damit das menschliche Bewusstsein gezielt zu verändern vermögen: Energiebahnen werden von Blockaden befreit, Energiezentren mit Prana aufgeladen,
Energieflüsse umgelenkt und die Prana-Qualität verändert. Diese Techniken stellen hohe Ansprüche an alle Teile des menschlichen Körpers, an Muskeln, Organe, Bindegewebe, besonders an das
Atemsystem, weshalb für den intensiv praktizierenden Hatha-Yogi der Begriff des „diamantenen Körpers“ geprägt wurde.
Die Techniken, die in Hatha Yoga eingesetzt werden, wenden sich, von außen beginnend, immer mehr nach innen. Nur für den Anfänger besteht Hatha Yoga ausschließlich aus Körperübungen, doch ist dies erst ein Beginn, kaum mehr als ein bescheidener Vorraum im großen Gebäude des Hatha Yoga.
Als Grundlage des Hatha Yoga dienen, ebenso wie im Raja Yoga, ethische Werte, die rechte Ernährung sowie die Führung durch einen Guru bzw. kompetenten Lehrer.
Der Aspirant beginnt mit den Asanas, den Körperstellungen, die allmählich intensiver und länger gehalten werden. Sie reinigen den physischen und den Astralkörper und erhöhen das
Energieniveau. Hier lernen wir auch die meditativen Sitzstellungen kennen.
Bevor man zu den Haupttechniken des Pranayama kommt, gilt es, die astralen Kanäle, die Nadis, und die Energiezentren, die Chakras, zu reinigen. Das geschieht einerseits durch die speziellen
Reinigungstechniken des Hatha Yoga, die Shatkriyas, andererseits durch reinigende Pranayamas.
Nun kann man vorsichtig in das Reich der Pranayamas eintreten. Sie bilden einen wesentlichen oder sogar DEN wesentlichen Bestandteil des Hatha Yoga. Die Reinigung wird auf
subtilerer Ebene fortgesetzt, die Übung intensiviert und, von sehr fortgeschrittenen Übenden, auf mehrere Stunden täglich ausgedehnt.
Die Pranayamas werden schließlich mit einer Gruppe von Techniken verbunden, die ihre Wirksamkeit deutlich erhöhen - die Bandhas, energetische Verschlüsse, ohne die
fortgeschrittene Pranayamas undenkbar sind.
Mehr und mehr kommt nun eine weitere Gruppe von Techniken ins Spiel, die ebenfalls Energien durch teils subtile Bewegungen und Muskelkontraktionen beeinflussen - die Mudras. Hier
ist ein Guru unbedingt notwendig, da nur er einschätzen kann, ob und für welche Mudras man bereit ist.
Der nächste Schritt nach innen führt uns zur Hatha-Yoga-Meditation, zum Lenken der Energien allein durch die Kraft des Geistes, der Vorstellung.
Die höchste Technik des Hatha Yoga, Nada, ist eine Meditationstechnik, die sich auf das Lauschen auf den inneren Klang konzentriert und schließlich zu Laya, zur
Auflösung der geistigen Bewegungen und damit zu „citta-vrtti-nirodha“ führt.
Auszug aus dem Buch "Ganzheitlicher Yoga" von Arjuna P. Nathschläger
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