Übung und Loslassen

Yoga ist das wohl ausgereifteste und umfassendste System zur Entwicklung und Entfaltung des Menschen, das jemals entwickelt worden ist – mehrere tausend Jahre forschten, entwickelten und praktizierten eine Unzahl von Menschen, um das hervorzubringen, was wir heute in zahllosen Büchern, Kursen und Seminaren als Yoga erlernen und erfahren können.


Das Yoga-System ist im Grunde ein Instrument, ein Werkzeug. Mit Yoga ist es wie mit jedem anderen Werkzeug auch: Es gilt, das Werkzeug in der rechten Weise zu benutzen, denn so wie es nicht genügt, einen Akkuschrauber und einen Hammer zu haben, um eine Holzhütte zu bauen, so muss man wissen, wie das „Yoga-Instrument“ einzusetzen ist und vor allem: Man muss es dann bewusst und ausdauernd einsetzen. Wir wollen uns in diesem Artikel ansehen, wie das Instrument Yoga einzusetzen ist, um seine Wirkung bestmöglich zu entfalten.

Die Yoga-Sutra

Vor etwa 1900 Jahren lehrte Patanjali in seinen berühmten Yoga-Sutras, dass das Ziel des Yoga aus einer tiefen Ruhe des Geistes entsteht, und dass es zweier Elemente bedarf, um den Geist zur Ruhe zu führen: Abhyasa und Vairagya, Übung und Loslassen. Tatsächlich ist der Yoga-Weg ein sinn- und planvolles Zusammenwirken dieser beiden Elemente.


Sutra 1,12: Übung und Nichtanhaften führen zur Ruhe des Geistes.

 

1. Abhyasa, die Übung

Wir können Abhyasa im auf sehr einfache Weise beschreiben als die Übung der Konzentration und Meditation.Patanjali:

 

"Abhyasa ist das ständige Bemühen um Stille des Geistes." (PYS 1,13).

 

In einem weiteren Sinn kann Abhyasa definiert werden als alle Yoga-Praktiken, die ein Zurückziehen aus dem Alltag erfordern. Abhyasa in diesem Sinn würde also neben der Meditation auch die verschiedenen Praktiken des Hatha-, Mantra- und Bhakti Yoga umfassen:


-    Asanas
-    Pranayamas
-    Mudras und Bandhas (ortgeschrittene Techniken des Hatha-Yoga)
-    Reinigungstechniken des Hatha Yoga (Kriyas)
-    Mantra-Rezitation und Mantra-Meditation
-    Gebet und Anbetungsrituale (Puja)
-    Kirtansingen
-    Meditation


So unterschiedlich diese Übungsansätze scheinen mögen, es ist ihnen gemeinsam, dass sie über die verschiedenen Ebenen des Menschen – Körper, Atem, Klang, Emotion und Geist – eine Beruhigung, Klärung und Zentrierung des Geistes anstreben, einige direkter, wie die Meditation, andere mehr indirekt, indem sie zunächst eine Reinigung der energetischen Ebene bewirken, wie die Hatha-Yoga-Kriyas.


Als zentrale und wichtigste Übung des Yoga kann zweifellos die Meditation betrachtet werden. Alle anderen Techniken bereiten den Boden für die Meditation und führen den Übenden Schritt für Schritt in den inneren Raum der Stille – Meditation oder eine meditative Stille kann so in den Asanas, beim Pranayama, bei der Puja (Reinigungs- oder religiöses Ritual) und natürlich im Kirtansingen entstehen und so den Boden für tiefe Meditation bereiten.


Abhyasa, die Übung, erfordert, dass man einen gewissen Zeitraum, am besten täglich, für die Yoga-Praxis reserviert. Über Umfang, Qualitäten und Zusammenstellung der eigenen Praxis wird, um einigermaßen auf Einzelheiten eingehen zu können, ein separater Artikel folgen. Abschließend zu diesem Thema lassen wir noch einmal Patanjali zu Wort kommen, der in Sutra 1,14 sagt:


„Die Übung ist dann fest begründet, wenn sie über lange Zeit hinweg, ohne Unterbrechung und mit aufrichtiger Hingabe durchgeführt wird.“

 

2. Vairagya, das Loslassen

Vairagya ist eine innere Haltung des Loslassens, die sich nicht auf die Übungszeiten beschränkt, sondern den ganzen Tag gelebt wird. Nicht nur Yoga, sondern auch die buddhistische Lehre beschreibt Gier und Hass als die Quellen des menschlichen Leidens. Vairagya setzt hier an und versucht, Impulsen der Gier und der Abneigung, die im täglichen Leben auftreten, mit Loslassen und Nichtergreifen zu begegnen. Dazu braucht es eine gewisse Präsenz und Bewusstheit – die wir im Bereich des Abhyasa, mit Asanas, Pranayamas, Mantras und Meditation stärken - , und umgekehrt wird das im Alltag gelebte Loslassen wiederum die Übungspraxis unterstützen. Patanjali:

 

„Vairagya ist der Bewusstseinszustand, in dem das Verlangen nach sichtbaren und unsichtbaren Objekten aufgehört hat.“ (PYS 1,15)


Vairagya ist eine gelassene, entspannte Grundhaltung gegenüber Menschen und den Dingen der Welt, ist ein Loslassen, das einem tieferen Erkennen entspringt, dem Bewusstsein, dass alles, das uns heute von größter Bedeutung erscheint, am Ende vergänglich ist. Diese Grundhaltung umschließt zum einen das Loslassen von Erwartungen und das Annehmen des Augenblicks, zum anderen unterstützende Qualitäten wie Wahrhaftigkeit, Stille, Selbstdisziplin und Hingabe an Gott.


Vairagya bedeutet, den geistigen Modus des Kampfes zu beenden. Die meisten von uns führen einen ständigen Kampf für und gegen bestimmte Dinge und Entwicklungen. Erst wenn wir den Kampf beenden, auch wenn dieser noch so sinnvoll und wünschenswert erscheinen mag, entsteht Friede im Herzen. Wir können uns für die Dinge, die uns wichtig sind, auch einsetzen, ohne im Kampfmodus zu sein, dies im Sinne des Karma Yoga, des „Tuns, was zu tun ist“ und mit dem Gefühl, dass nicht du der Handelnde bist, sondern dass durch dich gehandelt wird. So kannst du höchst effektiv wirken und gleichzeitig innerlich im Frieden sein – und nebenbei wird das Zurücklassen des inneren Kampfes den Stresslevel spürbar senken, was sich äußerst positiv auf die Gesundheit und die Immunkraft auswirken wird.

 

Das Zusammenwirken von Übung und Loslassen

Die beiden beschriebenen Elemente des Abhyasa und des Vairagya wirken auf unterschiedliche Weise auf das menschliche Energiesystem ein. Die Übung ist gleichsam die reinigende und treibende Kraft, das Loslassen könnte als inneres, lenkendes Bewusstsein bezeichnet werden. Keiner dieser beiden Aspekte ist für den Yoga-Übenden verzichtbar, und beide müssen im Gleichklang arbeiten. Je intensiver die Übungspraxis ist, desto größer ist die Verantwortung des steuernden Bewusstseins. Gleichzeitig wird durch die Praxis aber auch das Bewusstsein und das Loslassen unterstützt, sodass sich der Prozess selbstständig reguliert und verfeinert.


Du wirst, wenn du bereits einige Zeit Yoga geübt hast, vielleicht schon bemerkt haben, dass durch die Praxis der Asanas, Pranayamas, Meditation und Mantras subtile Veränderungen in Gang gekommen sind, die du als das Ergebnis der pranisch-energetischen Reinigung der Übungstechniken betrachten kannst. So wirst du vielleicht vermehrt den Impuls verspüren, in die Stille zu gehen, deine Achtsamkeit im Alltag wird sich vertiefen und du wirst vielleicht auch weniger impulsiv reagieren. All dies sind Zeichen des gemeinsamen und wechselseitigen Wirkens von Abhyasa und Vairagya.


Sehen wir uns jetzt an, was du konkret tun könntest, um diese Kräfte voll zu nutzen.

 

Was du tun kannst

  1. Mache dir bewusst, dass Yoga erst seine volle Wirksamkeit entfalten kann, wenn du beide Elemente, Übung und Loslassen, in balanzierter Weise in dein Leben integrierst – in einer Form, die für dich und deine Lebensumstände passend und stimmig sind.
  2. Etabliere eine in deinen Tagesablauf passende Übungszeit für Asanas, Pranayamas und Meditation. Im Idealfall reservierst du täglich 30 bis 60 Minuten für deine Übungspraxis.
  3. Beobachte im Alltag deine inneren Impulse und Regungen und mache dir bewusst, dass du die Wahl hast, ob und wie du auf sie reagierst. Beobachte, wo Anhaftungen, Gier und Hass entstehen, und übe dich darin, diese Energien zu beobachten, ohne dich von ihnen ergreifen zu lassen. Nur ein oder zwei Impulse täglich, auf die du nicht reagierst, und du wirst schon bald die Wirksamkeit dieses „Vairagya-Trainings“ fühlen: Du wirst bewusster, innerlich stärker und gelassener.


Setze mit deiner Praxis des kombinierten Übens und Loslassens fort – ohne Erwartungen und mit stiller Beharrlichkeit, denn dies sind die zwei wesentlichen Qualitäten der Yoga-Praxis.

 


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