„Yogas citta-vrtti-nirodhah“
sagte der Weise und Yoga-Psychologe Patanjali; eine freie Übersetzung lautet: „Die Erfahrung des Yoga wird dann gemacht, wenn der Geist zur Ruhe gekommen ist.“ Und weiter: „Tada drashtuh svarupe ´vastanam“: „Dann erfährt man seine wirkliche Natur, sein wirkliches Wesen.“
Dieser bereits vor rund 1800 Jahren beschriebene Gedanke bringt die Botschaft des Yoga auf den Punkt: Das Feld vielfältiger, auf den unterschiedlichsten Ebenen stattfindender Bewegung, das sich aus Geräuschen, Gedanken, Gefühlen und physischen Bewegungen zusammensetzt, behindert die Wahrnehmung dessen, was sich hinter diesen Bewegungen verbirgt. Die großen spirituellen Meister lehren es, viele Menschen ahnen es, was sich hinter dieser besonders in unserer Zeit geradezu systematisch aufgebauten Kulisse von Geräuschen und Bewegungen befindet: Eine völlig neue Dimension des Menschseins, eine Erfahrung, die beschrieben wurde als Gefühl höchsten Einsseins und überwältigender Freude.
Das moderne Leben ist laut, schnelllebig und sorgenerfüllt; immer mehr Produkte sollen für Komfort, Entlastung und Vereinfachung sorgen, doch tragen sie eher dazu bei, das Leben noch
komplizierter zu machen. Der uralte Ansatz des Yoga ist zeitgemäß und hochaktuell, denn er setzt dieser Entwicklung ein Instrumentarium von Techniken entgegen, die allesamt einen inneren Raum der
Stille aufzubauen und zu erfahren helfen:
Die Körper-Ebene
Die im Westen verbreitet praktizierten Körperübungen des Yoga, die Asanas, sind Körperstellungen, die für eine bestimmte Zeit bewegungslos gehalten werden. Der Übende verlässt seine durch
Bewegung und Unruhe gekennzeichnete menschliche Verfassung für einige Sekunden oder Minuten - ein Feld der Stille beginnt sich auf der körperlichen Ebene zu entwickeln.
Die Atem-Ebene
Zentrales Element der Atemübungen des Yoga ist das Anhalten der Luft – auch hier findet die ständige Bewegung der Ein- und Ausatmung eine Unterbrechung und für einige Augenblicke tritt die
Erfahrung der Stille auf der Atemebene ein. Diese Erfahrung vertieft sich mit jeder Haltephase und bereitet den Boden für ein außergewöhnliches Phänomen: Das zunehmende Dünner- und Feinerwerden
der Atmung bis zum weitgehenden Stillestehen in tiefer Meditation. So findet nach der physischen Ebene auch die Atemebene zur Stille.
Die Sinnes-Ebene
Eine wichtige Stellung im Yoga nimmt das Zurückziehen der Sinne ein, welches nicht nur die fünf Wahrnehmungsorgane umschließt, sondern auch die Handlungsorgane wie beispielsweise Hände, Füße und
Sprache betrifft. Eine besonders bekannte Form des Mäßigens der Tätigkeit eines Handlungsorgans ist es, sich für einen bestimmten Zeitraum ins Schweigen zurückzuziehen. Hierdurch werden
gedankliche und Nervenimpulse allmählich reduziert und es wird eine sich allmählich vertiefende innere Stille erfahren.
Die geistige Ebene
Die höchste Form der yogischen Stilleübung ist die Meditation, in der der Geist selbst durch Konzentration und Achtsamkeit systematisch zur Stille geführt wird. Der oben zitierte Patanjali sagte
über die Meditation, dass sie dann von Erfolg gekrönt würde, wenn sie über lange Zeit hinweg (mehrere oder viele Jahre), ohne Unterbrechung (also täglich) und mit aufrichtiger Hingabe und
Begeisterung praktiziert würde. Die am meisten praktizierten Meditationstechniken sind das Beobachten der Atmung, das Beobachten der Gedanken und die Mantra-Meditation, bei der mit jedem Atemzug
innerlich ein Mantra wiederholt wird. Idealerweise praktiziert man täglich zwei mal jeweils 20 – 30 Minuten.
Die Alltags-Ebene
Nicht nur in der Übung auf der Yoga-Matte oder auf dem Meditationskissen wird am Erschließen und Vertiefen der inneren Stille gearbeitet, auch der Alltag und das Denken im täglichen Leben wird in
dieses Streben mit eingebunden: Durch Beobachten und Bewusstwerden unserer inneren Bewegungen wird sich eine reduzierte Intensität unserer Wünsche, Erwartungen und Emotionen entwickeln – ein sich
ständig vertiefender Friede wird erfahren, der eine völlig neue Dimension der Freude freigibt:
Hat die den Menschen vertraute und in den unterschiedlichsten äußeren Dingen und Reizen gesuchte Freude eher den Charakter des Vergnügens, der Lust, immer abhängig davon, dass das Objekt der Lust
vorhanden ist, so ist die durch die Stille, das Vertiefen der Wahrnehmung im Yoga erlangte Freude wie ein Quell aus dem tiefsten Inneren, der von nirgends her zu kommen scheint, durch nichts
bedingt ist, eine Freude, die einfach da ist, weil sie das eigentliche Wesen, die eigentliche Natur des Menschen ist, immer vorhanden, doch verdeckt und versteckt hinter unseren Gedanken,
Emotionen, Wünschen, Erwartungen, Meinungen usw. Yoga ist der Weg der Stille, der Weg, der durch diese Stille die uns innewohnende Freude auf systematische Weise freilegt.
Wie können wir nun diese Gedanken und Ideen in die Praxis, ins eigene Leben umsetzen? Auch hierfür bietet der klassische Yoga eine „Zauberformel“: Abhyasa Vairagyabhyam tan nirodhah – Der Geist wird ruhig durch Übung und Nichtanhaften.
Als Übung, die letztendlich zur Stille führt, kann man alle bekannten Yoga-Techniken betrachten, also Meditation, Japa (Mantra-Rezitation), Anbetungsrituale, Lobgesang,
Reinigungstechniken sowie Asanas (Körperübungen) und Pranayamas (Atemübungen). Diese Übungen haben eine stark reinigende Wirkung auf den unterschiedlichen Seinsebenen des Menschen, eine Wirkung,
die umso stärker und spürbarer wird, je ausdauernder und bewusster sie praktiziert werden.
Nicht-Anhaften ist ein innerer Prozess des allmählichen Loslösens von der dinglichen, unseren Sinnen erfahrbaren Welt, welchem ein tiefes Erkennen vorangehen muss: Durch
achtsames Betrachten der Dinge und Zusammenhänge entwickelt sich eine Einsicht in die vergängliche und letztlich nicht erfüllende Natur der Dinge; man beginnt, hinter den Dingen etwas unendlich
Tieferes, Größeres zu erahnen und zu erfahren.
Übung und Nicht-Anhaften sind wie die beiden Flügel eines Vogels, die ihn immer höher zum Licht empor tragen. Die Übung stärkt das Nicht-Anhaften und das Nicht-Anhaften unterstützt die Übung.
Durch die Meditation (=Übung) werden wir im Alltag gelassener (= Nicht-Anhaften), und ein ruhiger, gelassener Tag, an dem wir uns nicht aus der Mitte haben reißen lassen, wird zu einer tieferen
Meditation führen. Und diese tiefere Meditation vermag wiederum eine positive Basis für den nächsten Tag zu legen.
So wird ein kombiniertes Vorgehen von Meditations- und Stilleübung einerseits und achtsamem Selbstbeobachten und Loslassen andererseits jene tiefe innere Stille zu finden helfen, die in jedem
Menschen vorhanden ist und die, erschlossen und entfaltet, den Menschen zum höchsten Glück, zu höchster Freude zu führen vermag.
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